Chaostheorie und Christfest
Vetter Alexander ist nicht nur Liebhaber seiner temperamentvollen Frau und Vater von ebensolchen Kindern - Alexander hat sich eben deshalb auch der Chaosforschung gewidmet. Und wegen Weihnachten. Weil das Wissen darum Weihnachten erträglicher macht. Alexander's Spezialität sind Kurzdefinitionen. Chaostheorie, erklärt er, ist jene Forschungsrichtung, die die Übergänge von geordneten Zuständen in ungeordnete, also chaotische Zustände, untersucht. Und umgekehrt. Das ist besonders möglich und nötig bei der Börse, in unserem Gehirn, beim Wetter und - in der Familie. Und für Familie ist Chaosforschung besonders zum Christfest zu empfehlen. Denn Weihnachten ist für die Familie, was eine einzelne Konzern-Nachricht für die Börse sein kann: Anlass zum Umbruch, zum Kippen in einen ganz gegenteiligen Zustand. Beispiel: Weihnachten steht die Familie unter besonderem Druck: Dem Harmoniedruck. Er entsteht, weil zu Weihnachten der gehäufte Austausch von Liebesbeweisen vorgeschrieben ist. Normalerweise drückt sich dieser Austausch in Form von Geschenken aus. Oder in weihnachtsliebe-vollem und daher mühsamem Küchen- und Kochaufwand. Andere Liebesbeweise, die erwartet werden, „Weil Papa sonst nicht Weihnachten feiern kann", sind der Verzicht auf jene modischen Schlotter-Hosen, deren Schritt irgendwo beim Knie enden. Und für Oma ist erst Weihnachten, wenn die Enkel unter dem Tannenbaum jedenfalls ein einziges Weihnachtslied blockflöten. Soviel zum Harmoniedruck durch die Zwänge der Liebesbeweisführung. Der Druck verstärkt sich enorm, weil die Familie tut, was sie sonst das ganze Jahr nicht tut: Auf engem Raum zeitgleich zusammenhocken (müssen). Diese verschiedenen Be-Drückungen finden ihr Ventil dadurch, dass nur einer von der Sippe doch in jenen unsäglichen Hosen erscheinen muss, um tatsächlich in diesem unwürdigen Habitus „Ihr Kinderlein kommet" mitsingen zu wollen (=Missachtung der Heiligen Nacht). Oder der Karpfen verkocht in der Küche, weil ein - wenn auch nur kleiner - Weihnachtsbaumteil Feuer fing und gelöscht werden musste (=mangelhaftes, leichtsinniges Schmücken des Baumes plus mangelnde Logistik bei der Karpfenzubereitung). Oder die Blockflöten tun das, was sie meistens tun: Sie beleidigen das Ohr und das Lied, du fröhliche, o du selige..."(O du! Du hast einfach nicht genug geübt). Durch solche Ereignisse (die Chaostheorie nennt sie „Attraktoren" wie sie z. B. die einzelne Nachricht an der Börse oder bestimmte Reizketten im Gehirn sind) - durch solche Attraktoren (Schlotterhosen, verkochte Karpfen) kippt die Ordnung der familiären Heiligen Nacht in unheiliges Chaos. Wissen hilft. Manchmal. Das Chaos Weihnachten in der Familie, predigt Alexander deshalb in eigens eingerichteten Seminaren für Weihnachtsüberlebenshilfen („Christmas-survival-trainings") braucht nicht auszubrechen, wenn wir uns vorbereiten auf die Attraktoren, ihnen vorab einen kleinen Spielraum einräumen. Denn Attraktoren kommen so sicher wie das Amen in der Christvesper In der wir wieder keinen Platz kriegen, weil wir zu spät losfahren. Aber das wissen wir ja vorher.
17. Dezember 2002